Übergänge

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

(Hermann Hesse: Stufen)

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Aktuell befinde ich mich in einem Übergang, beruflich wie privat: Neue Region, neue Arbeitsstelle, neue Aufgaben. Und ständig bekommt man das oben genannte Zitat von Hermann Hesse zu hören. Vermutlich soll es Mut machen und dafür sorgen, dass man diesen Übergang erfolgreich gestaltet. Vielleicht ist es auch nur ein Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit mit der Situation; damit, dass da jemand ist, der sich mitten in dieser Phase befindet und diese zu gestalten als Aufgabe hat; und man ist vielleicht selbst froh, dies nicht tun zu müssen. Mir selbst kommt es aktuell so vor, als würde dieser Zweizeiler allein der Komplexität des Übergangs nicht gerecht (und das wusste natürlich auch Hermann Hesse, denn sein Gedicht ist deutlich länger).

Es heißt, Rituale seien für die Gestaltung des Übergangs ein sehr wichtiges Mittel. Das Corona-Virus verhindert aktuell einige dieser Rituale. Dazu gehören aktuell auch Umarmungen und die Berührung im einfachen Händedruck als Zeichen der Verabschiedung und der Glückwünsche bzw. Danksagung. Auch Feiern sind aktuell nur sehr eingeschränkt möglich und es fehlt der Zauber des Loslassens.

Der französische Ethnologe Arnold van Gennep hat vor über 100 Jahren bereits zwischen drei Phasen des Übergangs entschieden: Der Ablösungsphase, der Umwandlungsphase und der Wiederangliederungsphase (vgl. Liechti-Genge 2016).

 

Ablösungsphase

Zu Beginn des Übergangs steht das Lösen vom bisher Gekannten. Und dabei geht es los mit dem Gefühlschaos aus Trauer, vielleicht auch Angst (denn man weiß ja noch nicht, wohin der Weg genau führen wird), aber auch Freude auf das Neue, und genauso Erleichterung darüber, dass man Einiges, das einen auch genervt hat, hinter sich lassen darf. Die Übergabe der vormals ausgeübten Aufgaben ist so ein Moment, indem viele dieser Emotionen parallel an die Oberfläche treten.

 

Zwischen- oder Umwandlungsphase

Im Französischen gibt es den Begriff des l’entre-deux, dem „Ort dazwischen“ (vgl. Liechti-Genge 2016). Die meiste Zeit fühlt sich der Übergang so an: Das Alte ist noch nicht ganz weg, das Neue ist noch nicht ganz da. In der Umwandlung steckt die Einsicht, dass die alten Fähigkeiten und Fertigkeiten und Einsichten im Neuen evtl. nicht mehr funktionieren. Es ist eine Phase der Verunsicherung, aber auch der Neugier und Offenheit, für Impulse, aber auch erneut für die breite Palette an Emotionen.

Kleiner persönlicher Einschub: Es ist wunderbar, wenn Menschen sich entscheiden, diesen Übergang mitzugestalten. Das trifft auf Kolleginnen und Kollegen zu, die sich fest vorgenommen haben, mich an meiner neuen Arbeitsstelle zu besuchen und im Austausch zu bleiben, aber auch und vor allem die Kolleginnen und Kollegen meiner neuen Arbeitsstelle, die die Mühen auf sich genommen haben, mich im Rahmen des Projekts „Zeitgemäß Lernen“ an meiner alten Schule zu besuchen und zu verstehen, worin der Kern meiner Arbeit zuletzt bestand. So darf ich ein Stück meiner alten Begeisterung mitnehmen, das Gefühl eines Übergangs mit Geländer kann entstehen. Danke!

 

Wiederangliederungsphase

Angeblich wird erst in dieser Phase die Tragweite der Veränderung spürbar. Das Einfinden in das Neue kostet viel Kraft, und am Ende kann ein Zustand entstehen, in dem ich im Neuen ankommen kann, die Umwandlung also beendet ist.

 

ZuMUTung

Zu Beginn des Übergangs habe ich mir die Frage gestellt, ob ich bereit bin, mir die Aufgabe der Schulleitung „zuzumuten“. In dieser Begrifflichkeit steckt einerseits der Gedanke, von sich selbst etwas zu verlangen, was man ggf. nur schwer leisten oder ertragen kann. Kann man unter solchen Umständen einen solchen Weg überhaupt antreten?

Andererseits ist der Kern eines jeden Übergangs genau in dem Wort Mut zu finden, das sich in der Mitte der Zumutung befindet. Franz Liechti-Genge (ebd.) schreibt dazu unter Bezug auf den Wortursprung des Wortes Courage (frz. coeur): „Mutig sein heisst also, mit dem Herzen dabei zu sein, beherzt das Leben wagen. Das Leben wagen bedeutet eben auch, sich diese Übergänge zuzumuten.“

 

Übergänge gestalten

Wenn Rituale wie in der aktuellen Situation aktuell nur eingeschränkt der Gestaltung des Übergangs dienen, dann muss man sich ggf. einfacherer Formen bedienen, zum Beispiel, in dem man den Übergang als solchen bezeichnet und auch dadurch zelebriert. Vielleicht hilft auch schon das, genau das auszuhalten, was so wichtig ist: l’entre-deux, das Dazwischen.

Dieser Text ist vermutlich in dieser Form entstanden, weil es eine hohe Deckungsmenge zwischen meiner aktuellen persönlichen Erfahrung und der Verwandlung des Schulwesens im Kontext der Kultur der Digitalität und den konkreten Anforderungen im Angesicht der Corona-Krise gibt. 

 

 

Literatur

Hesse, Hermann: Stufen. Zitiert nach: https://hhesse.de/gedichte/stufen/, abgerufen am 24.07.2020

Liechti-Genge, Franz (2016): Übergänge – wahrnehmen, gestalten, leben. https://www.ebi-zuerich.ch/cm_data/EBI-Uebergaenge-FranzLiechti-Genge.pdf, abgerufen am 24.07.2020

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn es „klick“ macht

 

In den letzten Wochen traf ich zwei ehemalige Schüler. Sie waren offen, freundlich, zufrieden mit ihrem Lebensweg und hochmotiviert. Beide studieren Informatik und stehen kurz vor dem Abschluss. Ich habe mich für sie gefreut. Vor allem, weil ich sie ganz anders in Erinnerung hatte. Beide waren eher zurückhaltend, unsicher, und vor allem unmotiviert, nicht nur in meinem Unterricht.

Ich habe sie unabhängig voneinander gefragt, wann und wodurch sie diesen Wandel vollzogen hätten. Sie sagten, es hätte halt erst später „klick“ gemacht. Sie definierten diesen „Klick“ auf meine Rückfrage als motiviert sein, den eigenen Weg zu suchen. Ich fragte außerdem, was ihnen dabei geholfen habe und bekam zwei Antworten:

  1. Endlich kann ich meinen eigenen Interessen und Neigungen folgen => Spezialisierung
  2. An der Uni kann ich keine Fristen versäumen, da gibt es keine zweite Chance => Druck

Nach diesen Gesprächen habe ich mich gefragt, warum es nicht vorher „klick“ machen kann – warum können Schülerinnen und Schüler nicht bereits an der Schule Möglichkeiten finden, ihren Interessen nachzugehen bzw. auch eine Motivation innerhalb des Systems zu entwickeln, nicht rein als Abgrenzung vom System. Was machen wir falsch?

Bei der anschließenden Debatte bei Twitter ist mir klar geworden, dass die meisten Kritiker meiner Frage, was wir falsch machen, von einer Schule ausgehen, die sie selbst kennen, von der sie sich ggf. auch abgrenzen konnten. Das eigene Bild und die Vorstellung der Funktion von Schule spielten in der Bewertung eine wesentliche Rolle. Andere wiederum schoben die Problematik auf das Alter, es habe also entwicklungspsychologische Gründe, dass der „Klick“ später einsetzte . Lehrerinnen und Lehrer sowie Schule nähmen sich dabei zu wichtig und spielten gar keine so große Rolle, wie sie das immer glaubten.

Ich bin überzeugt, dass wir es uns damit zu einfach machen.

Schule muss Räume öffnen, um den eigenen Interessen nachgehen zu können, um sie auch in die Schule einbringen zu können. Das läuft vielleicht unter dem Label „Forschendes Lernen“, aber es geht auch darüber hinaus. Wir versuchen das an unserer Schule mit den sogenannten „LeAs“ (freien Lernangeboten). Diese werden von Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern, Unternehmen, Sportvereinen und Eltern angeboten und bieten ein Spektrum von ca. 150 verschiedenen, vierteljährlich wählbaren Lerngelegenheiten, die Teil der Pflichtstunden sind. In einem Wochenpensum von bis zu 35 Stunden sind diese 2 Stunden pro Woche, die dafür eingeplant sind, nur ein kleines Fenster in Richtung Wahlmöglichkeiten und Freiheit und sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss.

Aber vielleicht ist es auch gar nicht die Aufgabe von Schule, dafür zu sorgen, dass es während der Schulzeit bei jedem „klick“ macht, wie einer der Diskussionsteilnehmer bemerkte, sondern vielmehr dafür zu sorgen, dass es irgendwann einmal „klick“ macht. Aber welche Grundlagen wären das dann?

Und vielleicht muss Schule auch (aber nicht nur!) das System sein, von dem man sich als Jugendlicher abgrenzen will und muss.

 

Ein Innovationsfonds für Schulentwicklung

Es ist eine Frage, die mich seit geraumer Zeit umtreibt. In einer sich radikal wandelnden Gesellschaft bewegt sich die (Kultus-)Bürokratie wie in schwerer Tanker. Egal, wie agil Schulen und andere Bildungsinstitutionen reagieren wollen, der Rahmen, in dem sie sich bewegen, ist alles andere als agil gestaltet und so nicht nur unflexibel, sondern auch (zu) langsam für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts.

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Schule könnte schneller auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren

Inhaltliche und formale Vorgaben gleichzeitig

Die Vorgaben der Kultusbürokratie sind immer noch sehr eng; im Rahmen der Kompetenzorientierung hätte sich die Chance ergeben, Inhalte und Umsetzungsvarianten flexibler zu gestalten und stärker vom Output her zu kontrollieren. Bisher hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Ein Beispiel: Die KMK legt für das Abitur gemeinsame Standards und Inhalte fest und entwickelt sogar einen gemeinsamen Aufgabenpool, gleichzeitig wird immer noch die Form kontrolliert (z. B. müssen es 2 Jahre Kursstufe sein, nicht mehr, aber auch nicht weniger).

Wie öffnet man ein solches System? 

Die Lösung könnte ein Innovationsfonds sein, bzw. besser noch: mehrere. Denn ein System, das sich mit dem Lernen beschäftigt, muss selbst ein lernendes System sein wollen. Dies gelingt durch die Ermöglichung von Schulversuchen (auch auf KMK-Ebene) und auch auf Landesebene – die Expertise vor Ort wird genutzt und multipliziert. Auch das Scheitern gehört dazu und kann weiterhelfen. Natürlich gibt es Schulversuche bereits, allerdings finden diese nur in sehr begrenztem Rahmen statt und sind stark reglementiert. Auf KMK-Ebene finden praktisch keine Anträge statt, weil sich die Bundesländer dadurch exponieren und sich im föderalen Kuhhandel Nachteile einhandeln. Ein Innovationsfonds könnte die Ebene unter dem Schulversuch gestalten helfen.

Skizze eines Innovationsfonds

  • Das Kultusministerium stellt einen bestimmten Betrag bereit und ermöglicht Schulen, sich für den Fonds zu bewerben.
  • Zugelassen sind ausschließlich pädagogisch-didaktische Innovationsversuche. Die Erweiterung oder Aktualisierung der Ausstattung o.ä. ist damit ausgeschlossen.
  • Der Betrag ist zu 2/3 von den Schulen frei zu verwenden für zeitliche Ressourcen, Hospitationen (im Ausland), Tagungen, Austausch mit anderen Schulen etc.
  • 1/3 des Betrages ist gebunden an die obligatorische Multiplikation der Idee, und zwar als Fortbildung für interessierte Schulen. So entsteht nicht nur Expertise vor Ort, sondern ein echtes Bottom-up-System zur Innovation.

Kritik

Natürlich kann man kritisieren, dass Schulen, die organisatorisch und personell besser aufgestellt sind, auf diese Weise wieder schneller an Ressourcen kommen und sich Ungleichheit verstärkt. Andererseits ist es eine Frage der Förderkriterien, genau diese benachteiligten Schulen im Blick zu haben. Es geht nicht um Eliteschulen, es geht nicht um Leuchttürme, sondern um ein Lernen des Systems. Dadurch muss der Austausch der Schulen einen Raum bekommen.

Diesen Raum füllen bisher Initiativen wie Blick über den Zaun, Innovationslabore der Deutschen Schulakademie (Robert-Bosch-Stiftung) oder Schulen im Aufbruch. Und sie tun das nicht schlecht. Was fehlt, ist die Durchsetzungskraft der Ideen – und da braucht es dringend die Anbindung an, nein mehr, die Unterstützung der Kultusministerien bzw. der KMK.